Dies ist die Geschichte von drei Nachbarinnen und einer Krähe. Ich habe den Vorgang nur, ich sage mal, aus zweiter Hand erlebt, die Krähe gelegentlich gesehen. Jetzt hat man mir diese nicht alltägliche Tiergeschichte komplett berichtet.
Victoria sah in ihrem Garten eine Krähe stolzieren. Nichts Ungewöhnliches. Doch sie überlegte: Will ich die hier in meinem Garten haben? Das Tier ist ja nun keine Friedenstaube. Sie erkannte, dass der Vogel keine Scheu vor ihr hatte. Er blieb in dem Garten und hatte Zutrauen zur Gärtnerin.
Die Krähe kam ganz vertraut auf Victoria zu. Schließlich wagte die es, sie auf ihre Hände zu nehmen. Krähe und Victoria sahen sich in die Augen und spürten Zuneigung. So richtig konnte sie nicht mit der Situation umgehen. Es war ihr auch immer noch nicht geheuer. So eine Krähe ist schließlich kein Kanarienvogel, mit dem man eher mal zusammen ist. Sie ging mit der Krähe auf der Hand zu ihrer Nachbarin. Gemeinsam konnte man beraten, wie das jetzt weitergehen sollte. Ihre Nachbarin Maria war eine tierliebe und warmherzige Frau. Sie war vor Jahrzehnten mit ihrem Mann aus Kroatien eingereist. Der Mann hatte als Bergmann gearbeitet. Leider konnte er seine Rentenzeit nicht lange erleben. Er verstarb bereits im ersten Rentnerjahr.
Die beiden Frauen berieten, was jetzt zu tun sei. Es sah so aus, als wolle der Vogel hierbleiben. Der hatte die Situation fix eingeschätzt. Mit einem kleinen Sprung setzte er sich auf Marias Arm, kletterte wie selbstverständlich daran hoch und ließ sich auf ihrer Schulter nieder.
Marias Augen strahlten eine überwältigende Freude aus. Ihr Herz sprang fast aus ihrer mächtigen Brust. Ja, es war zu offensichtlich, zwischen den beiden entwickelte sich spontan eine Liebesbeziehung. Ihr Kater Mikesch und Jakob, die Krähe, wie sie von nun an genannt wurde, musterten sich eingehend und kamen zu der Einsicht, sich auf eine friedliche Koexistenz zu einigen.
Nun begann eine gute Zeit für Maria und Jakob. Mikesch hatte noch Bedenken, ob das hier was Gutes sei. Bisher war er das Objekt ihrer ungeteilten, liebevollen Zuwendung gewesen. Nun sah es so aus als wäre er das fünfte Rad am Wagen. Auf einmal bekam dieser verdammte Vogel sein leckeres, teures Katzenfutter – und er selbst musste nunmehr mit Billigfraß vom Discounter vorliebnehmen. Dazu kam noch, dass Frauchen in ihrer überschwänglichen Liebe in der Welt herumfuhr, um noch besser geeignetes Krähenfutter zu beschaffen.
Das Leben nahm seinen Lauf. Die Krähe Jakob klopfte frühmorgens ans Schlafzimmerfenster und bekam ihr Frühstück serviert. Sie hüpfte noch ein bisschen in der Wohnung umher und zeigte Gemeinschaftssinn. Flog dann in den Garten oder machte eine Inspektionsrunde in der Nachbarschaft.
Als Jakob das erste Mal an die Scheibe klopfte, öffnete Maria im Halbschlaf das Fenster. Jakob sprang überraschend aufs Bett und setzte sich auf das Kopfkissen der freien Bettseite. Maria sah sich an ihren verstorbenen Mann erinnert und war überzeugt, Stefan wäre in der Gestalt von Jakob zu ihr zurückgekommen. Eine Nachbarin wusste es besser. „Der Vogel ist einfach nur liebenswürdig, der kann gar nicht dein Mann sein.“
Dann war da noch eine Nachbarin, die Frau Zimtzicke. Sie wurde „die Heilige“ genannt, weil sie – meist draußen auf der Bank – demonstrativ einen Rosenkranz betete. Aber sonst war sie unerträglich, spionierte die Nachbarn aus und hatte immer eine kleine Hinterhältigkeit drauf. Das mit der Vogelliebschaft konnte sie überhaupt nicht gutheißen. Wetterte dagegen, wann immer sie konnte. Doch Maria hat zwei Herzen in ihrer Brust, das herzliche, tierliebende und das schlaue, harte, kämpferische, auf Sieg getrimmte. Da konnte eine Zimtzicke nichts gewinnen.
Die Zimtzicke kam dauernd mit dem Vorwurf an, das Vieh mache ständig Lärm mit seinem Gekrächze. Das war total unwahr. Es gab nämlich, etwas abseits, einen riesigen Baum, in dessen Krone sich eine mafiöse Krähengroßfamilie einquartiert hatte. Die machte den Krach und flog regelmäßig lärmend über die Häuser. „Da sind sie wieder, die Lederjacken“, hieß es dann.
Jakob versuchte immer mal wieder, in diese Gruppe aufgenommen zu werden. Er machte dabei allerdings den Fehler, seiner Freundschaft zu den Menschen nicht abzuschwören. Damit wurde er bei der Krähenmafia abgeschmettert. So ein Klugscheißer, Weichei und Sympathisant, der sich bei Menschen einschleimte, hatte in der Gruppe der harten Lederjackenträger keinen Platz.
Maria kam immer wieder ins Grübeln: Es konnte nicht anders sein, ihr Jakob gehörte zweifellos zu einem anderen Menschen, der den Vogel genauso liebte wie sie. Nur unglückliche Umstände konnten dazu geführt haben, dass er sein Heim verloren hatte. Nach langem Hin und Her fasste sie den Entschluss, das eigentliche zu Hause des Vogels zu finden. Maria wollte ihr Glück nicht auf dem Unglück eines anderen leben. Sie heftete Nachrichten an Bäume und Hauswände. Der Jakob sei bei ihr in guten Händen, suche aber verzweifelt nach seinem Kindheitszuhause.
Daraufhin hat sich ein Mann gemeldet. Der hat aber erkannt, dass Jakob nicht seine entflogene Krähe war. So konnte das freudige Miteinander weiter andauern, nun mit gutem Gewissen.
Doch dann kam es, das Unausweichliche. Jakob flog fort. Mikesch rieb sich die Pfoten. Aber Maria durchlebte eine schmerzvolle Zeit. Sie rief abends nicht mehr nur nach ihrem Mikesch, sondern auch laut nach Jakob. An vielen Abenden, für eine lange Zeit.
Die heilige Nachbarin fühlte sich gestört. Sie konnte ihren Rosenkranz nicht mehr in Ruhe beten.
Die anderen Nachbarinnen hatten ein Herz, fühlten den Schmerz mit. Schließlich haben sie zur Erinnerung ein Foto von Jakob eingerahmt und Maria geschenkt.
Aus Kreisen der Krähengesellschaft war zu erfahren, wie es Jakob weiter ergangen ist. Er war stark und gesund. Eigentlich hervorragend geeignet für die Mitgliedschaft in der Krähenmafia. Er hat die Lederjacke mit Club-Logo angezogen, einen Eid abgelegt, nie mehr in menschliche Behausungen zu fliegen und niemals mehr von Menschen dargebotenes Futter anzunehmen. Dann heiratete er noch die Tochter des Paten.
Nach nunmehr langer Zeit gibt es doch immer wieder Augenblicke, in denen Maria gedankenversunken mit stiller Sehnsucht den Himmel nach ihrem Jakob absucht.