Eine Stadt erwacht

Heute ist mein Auto dran. Muss in die Werkstatt für die TÜV-Abnahme. Ich reiße mich in Herrgottsfrühe aus dem Bett und gebe mein Auto ab. Es ist für mich eine neue Werkstatt und ein neuer Stadtteil. Ist nicht sehr weit von meinem Haus entfernt, aber doch zu weit, um für die ca. drei Stunden Wartezeit nachhause zu laufen. Also werde ich diesen Stadtteil genießen, fünftausend Schritte gehen, frühstücken und was so geht. Stadtteil und Straße sind mir bekannt, kenne sie aber nicht wirklich. Ich laufe einmal hin und her.

Die Straße ist anders als meine Straße. Bei mir gibt es viele Bäume, wenig Cafés und große Geschäfte. Hier gibt es weniger Bäume, viele Cafés und kleine Geschäfte. Beides natürlich City-Stadtteile.

Die Straße gibt sich idyllisch. Richtig zum Bummeln und Relaxen. Mittlerweile haben die Cafés geöffnet. Ich fixiere ein kleines Bäckerei- Café mit wenigen Stühlen draußen. Gehe hinein, bestelle einen Kaffee und ein belegtes Brötchen. Möchte fix hinauseilen, um den Sitzplatz nicht zu verlieren. Die Verkäuferin: Hier geht das so: Du bezahlst und ich bringe dir die Bestellung nach draußen. Auch gut, habe in aller Eile das Geld passend zusammen gefrickelt und ab nach draußen.

Ich sitze dort und schaue, wie sich die Menschen einfinden und ihren Dingen nachgehen. Die Straße füllt sich.  Einige haben im Laufen ihren Kopf gesenkt und grübeln anscheinend vor sich hin. Andere gehen freudestrahlend aufrecht und genießen den schönen sonnenbestrahlten Morgen mit wolkenfreiem Blau am Himmel.

Die Menschen, die vorbeigehen, sehen unterschiedlich aus. Nicht nur aufs Alter bezogen, sondern auch von ihrer ethnischen Herkunft her. Ich höre auch Stimmen, deren Sprache ich nicht zuordnen kann.

Eine Frau mit skandinavischem Aussehen kommt mit einem Zwillingskinderwagen. In einer Gondel liegt das Kind, in der anderen ihr wertvoll wirkender Rucksack. Sie stellt den Wagen neben mir ab, nimmt den Rucksack und betritt die Bäckerei. Offenbar wähnt sie ihr Kind in meiner Nähe sicher.

Das Kind, es ist noch ein Baby, macht seinen Frühsport. Hampelt herum. Ich sehe es nicht, aber es kommt immer mal ein kleines Händchen oder nackter Fuß nach oben. Sie kommt heraus, ich vermelde freundlich, da drin ist ja was los. Ja, der Junge ist sehr lebhaft. Wir wünschen uns gegenseitig einen schönen Tag und Mutter und Kind entschwinden.

Die Straße ist sehr eng, hat aber auf beiden Seiten einen Parkstreifen mit komplizierten Parkregelungen auf Wochentage und Uhrzeiten bezogen. Es steht ein Auto in der Verbotszone. Ein Mann vom Ordnungsamt kommt und heftet ein Knöllchen an die Scheibe.

Auf der linken Seite steht ein PKW mit einem mittelgroßen Anhänger. Eine Frau über sechzig, etwas füllig und altersschwergängig, schwenkt mit dem Gespann aus, um auf der anderen Seite sicherer zu parken. Sie steht unglücklich schräg auf der Straße und nichts geht mehr. Sie steigt aus, kurbelt tapfer des Spornrad hinunter und kuppelt ab. Dann versucht sie verzweifelt, den Anhänger von der weg Straße in die Parklücke zu schieben. Ich will hineilen um zu helfen. Da springt ein junger Mann aus seinem Auto und packt an. Am Straßenrand stehen zwei türkisch aussehende Männer, die, wie es den Anschein hat, zu dieser Frau in Beziehung stehen. Sie palavern lautstark herum und geben in ihrer Sprache wichtige Äußerungen an die Welt, ohne einen Handschlag zu tun.

Jetzt kommt ein gigantischer Lieferwagen und schert in die Ladezone direkt vor mir ein und beliefert die Bäckerei. Ich frage mich, wie der hier überhaupt durchgekommen ist. Die Fahrer sind halt Profis.

Ich höre hinter mir lautes Rufen: ich habe ein Geschenk für Sie. Ah, Geschenk ist gut, ich schau mich um und sehe aus der Entfernung, dass der Ordnungsmann einem rückkehrenden Autofahrer das Knöllchen in die Hand drückt. Später erfahre ich, dass mein Eindruck falsch war.

Ich hebe meine Frühstückstafel auf und schlendere die Straße entlang zu der Geschenkvergabe. Sich beschenken lassen reizt immer. Es sind zwei freundliche Herren, mit einem Packen Flyer in den Händen. Ich frage, ob ich dieses Geschenk auch haben kann.

„Sind Sie Radfahrer?“

„Ja, bin ich.“

Fahren Sie hier auf dieser Straße? Darum geht es nämlich. Diese Radfahrstraße wurde vor einem Jahr eingerichtet und wir bedanken uns bei den Radfahrern für ihre gute, erfreuliche Nutzung.

Ich lüge, „Ja, ich fahre natürlich auch hier“. Kann auch noch zum Besten geben, ich komme oft mit einer Gruppe von Radfahrern hier durch.

Das passt gut. Ich bekomme den Flyer und zu meiner Überraschung noch einen Stoffbeutel, der auch als Rucksack getragen werden kann. Da sind auch noch ein paar kleine Werbegeschenke drin.

Ich bedanke mich für die fröhliche Begegnung. Schlendere weiter die Straße entlang und fasse den Entschluss, Fotos zu machen für, nun ja, ein bisschen Doku. Dabei muss ich ständig auf der Hut sein, keinen Menschen erkennbar zu erwischen. Alles wegen dem Datenschutz.

Als ich auf dem Rückweg bei den schenkenden Männern vorbeikomme, rufen die mir strahlend zu, dann mach auch mal ein Foto von uns. Gesagt, getan.

Nun komme ich wieder an meinem Café vorbei. Was soll ich groß tun, meine Wartezeit ist noch nicht vorbei. Genehmige ich mir noch ein Frühstück? Doch da sitzt auf meinem Platz eine Frau mit Hund. Gegenüber ist noch ein Stuhl frei.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

„Ja, selbstverständlich.“

Ich gehe nur fix hinein und gebe meine Bestellung auf, ein Kaffee und ein Zimtgebäck. Als ich herauskomme, ist sie aufgestanden.

Oh, frage ich betroffen, „habe ich Sie vertrieben?“

„Nein, nein, ich habe es sehr eilig, ich krieg gleich den Handwerker, der Dachdecker kommt.“

Ich habe inzwischen ihren liebenswerten Hund begrüßt und gestreichelt.

Sie spricht weiter: „Ja der Dachdecker, der ist ein ganz übler Typ“. Und gibt mir ein sehr umfassendes Charakterbild.

Ich versuche, sie positiv einzustimmen. Erkläre, an einem Morgen wie diesem, mit Sonnenschein, warmer und guter Luft, wird der Dachdecker sicher besserer Laune sein und ihr Zwei werdet euch besser verstehen.

Sie eilt von dannen. So richtig überzeugt von einer bevorstehenden, fröhlichen Begegnung mit dem Dachdecker ist sie wohl nicht.

Da biegt ein dickes hochglänzendes Auto ein und parkt in der Ladezone. Als der Mann aussteigt, rufe ich ihm zu, die Männer vom Ordnungsamt sind in der Nähe. Er gibt mir ein Zeichen, dass er nur fix in die Apotheke möchte. In wenigen Minuten kommt er heraus, bedankt sich bei mir und entschwindet. Auto und Fahrer sehen aus, als wenn sie kein Problem haben, ein Knöllchen zu bezahlen. Aber man möchte es nicht. Man fühlt sich irgendwie bestraft.

Grad kommt eine Mutter vorbei mit einem Dreierkinderwagen. Sie wirkt überanstrengt. Ich lächle sie an und sie lacht zurück. Eine kleine Geste.

Erwähnen muss ich noch das Schaufenster der Bäckerei. Angefüllt mit vielen Brotsorten, ist es ein Anblick lukullischen Hochgenusses. Ich hebe mein Zweitfrühstück auf, gehe hinein und bestelle ein Baguette und ein Graubrot. Hinter der Theke ist nicht die burschikose Verkäuferin von zuvor.  Es ist diesmal eine junge Frau mit Moslemkopftuch. Sie strahlt mich freundlich an. Sie ist sehr schön und von perfektem Styling. Wirkt irgendwie aristokratisch. Von ihr werde ich sicher nicht geduzt wie von ihre Kollegin.

Sie bietet mir eine Tasche für meine Brote an. Brauch ich ja nicht, habe ja den Rucksack. Das Baguette schaut oben heraus, was alles irgendwie anheimelnd macht.

Ich beschließe, noch eine Schleife zum anderen Ende der Straße zu laufen und dann nach meinem Auto zu schauen. Auf dem Wege komme ich überraschend wieder mit der Frau mit dem Drillingskinderwagen zusammen. Sie ist blond und die drei Kinder haben unterschiedliche Hautfarben. Ich frage sie, wie sie das hinbekommen hat.

„Ich habe nur ein Kind, diese Drei sind in meiner Obhut, ich bin Tagesmutter.“

Mein Auto hat den TÜV natürlich nicht passiert. Ist aber nur Fummelskram, der noch erledigt werden muss. Die neuen Reifen sind drauf und ich fahre heim. Ich denke dabei, war doch ein sehr schöner Vormittag. Prima, dann auf ein Neues, in zwei Jahren muss das Auto ja wieder zum TÜV.

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